Das Turiner Pferd

Russel Faraday

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#02 06.10.16 Russel Faraday
 
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Russel Faraday

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Das Turiner Pferd


Die Legende will’s, dass Friedrich Nietzsche, der große Menschenfreund und Frauenversteher, Anfang 1889 in Turin auf dem Weg zum Bus war und dabei einen Kutscher überraschte, wie dieser gerade drauf und dran war, das störrische Pferd, welches vor die Kutsche gespannt war, zu Tode zu prügeln. Nietzsche schritt ein, rettete dem Ross das Leben und legte sich für eine Dekade mit Syphilis und galoppierendem Wahnsinn ins Bett, um aus selbigem nie wieder aufzustehen. Okay, das mit dem „auf dem Weg zum Bus“ hab ich erfunden.

Der alte Ohlsdorfer lebt mit seiner Tochter allein auf dem maroden Gehöft. Der rechte Arm ist gelähmt, das Familienpferd frisst nicht mehr und bereitet sich auf sein Ableben vor, während Ohlsdorfers Tagesablauf gekennzeichnet ist mit stets denselben Handlungen. Draußen tobt ein Sturm, jeder Tag ist wie der vorangegangene.

Bela Tarr schlägt wieder zu. In seinem letzten Film schildert der ungarische Ausnahmeregisseur den tristen, düsteren Alltag zweier Menschen, die in ihrer Abgeschiedenheit nur sich selbst haben. Sechs Tage lang verfolgt er in beklemmender Eindrücklichkeit Vater & Tochter, deren alltägliche Handlungen so oft wiederholt worden sind (auch bemerkenswert dargestellt durch die stets gleiche musikalische Untermalung, die überhaupt nicht variiert und dieselbe kleine Melodie wieder und wieder und wieder vorführt), dass sie mittlerweile den Charakter von Ritualen angenommen haben: das Aus- und Ankleiden des Vaters, das dieser ob seines unbrauchbaren rechten Armes nicht mehr allein bewerkstelligen kann; die einsame Kartoffel, die abends verzehrt wird; das Wasserholen am nahen Brunnen, während mit jedem anbrechenden Morgen ein wenig Lebensgrundlage das Zeitliche segnet: der Brunnen versiegt, das Pferd stirbt, die Öllampen stellen den Dienst ein. Das Gehöft verfällt mehr und mehr und mehr.

Dabei macht der Film nur wenig Worte (mit Ausnahme des langen Monologes des Nachbarn, in dem dieser über Gott und die Welt, über Politik, über Macht und Machtlosigkeit schwadroniert, was von Ohlsdorfer mit einem harten „Blödsinn“ abgekanzelt wird) und lässt vor allem Gesichter und die allgemeine Endzeitstimmung sprechen, die den ganzen Film durchzieht. Das Leben nach dem großen Knall könnte nicht eintöniger und deprimierender sein.

„Das Turiner Pferd“ ist kein Film, den man nebenher konsumieren kann, sondern der seinem Zuschauer eine Menge abverlangt. Nach dem monumentalen Sieben-Stunden-Epos „Satanstango“, der vor allem einiges an Geduld voraussetzte, erwartet Tarr hier ganz andere „Opfer“ seines Publikums: Die Bezeugung der chronologischen Abhandlung eines Untergangs zweier Individuen, die jegliche Hoffnung verloren haben und so tief in ihrer starren Umgebung gefangen sind, dass sie aus dieser nicht entrinnen können.

Ein echter Tip für Freunde der schweren Filmkost.
 
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