AW: Das Schweigen
Kritik von Vince
DAS SCHWEIGEN
“Das Schweigen” ist die Analyse einer soziologischen Triade, unbestimmt definiert durch eine Mutter (Gunnel Lindblom als Anna), deren Sohn (Jörgen Lindström als Johan) und deren Schwester (Ingrid Thulin als Ester). Ingmar Bergman lässt keine ergebnisverfremdenden Umwelteinflüsse zu, er verfrachtet die drei Menschen in ein totales Isotop. Das Hotel ist alt, riesig und fast unbewohnt; der verwirrte Kellner und die Liliputanertruppe sind surreal, entfremdet von der Wirklichkeit, zählen nicht als Kontakt nach außen. Nicht einmal der Blick aus dem Fenster birgt eine natürliche Distanz, die zeigen würde, wo die Isolation beginnt und wo sie aufhört, oder wie man sie vielleicht durchbrechen könnte. Schaut Ester aus dem Fenster, sieht sie einen Panzer, der mitten in der Nacht durch die menschenleere Straße kreuzt und dabei Pausen einlegt, als gälte es, sich neu zu orientieren. Wir sind mit Ester, Anna und Johan allein und die Geschichte wird über ihre schweigenden Gesichter erzählt, gnadenlos eingefangen in jeder noch so privaten Situation.
Das Schweigen der Charaktere lässt uns teilhaben an ihrem Innenleben. Die Kunst der Sprache wird fast komplett ausgelassen, um dem an Dialogsemantik gewöhnten Zuschauer die Augen zu öffnen für die Ursache der Worthülsen: das Innenleben der Menschen. Wie kein anderer Regisseur stellt Bergman den Menschen als hochkomplexes Wesen dar, dessen emotionale Stabilität empfindlichst von äußeren Einflüssen mitbestimmt ist, die auch durch die soziale Umwelt, also unsereins, geprägt wird. Insbesondere das facettenreiche Spiel Ingrid Thulins falsifiziert das cineastische Bild vom durch logische Impulse angetriebenen Menschen, der sich den Wünschen des Drehbuchautoren und den Rahmenbedingungen seines Plots unterwirft. Die Figur der Ester kann im vorliegenden Rahmen eine fürsorgliche Ersatzmutter sein (oder möglicherweise auch die einstmals entmachtete richtige Mutter), im nächsten Moment jedoch ein missgünstiger Succubus, den Kopf verdrehend und die Zähne fletschend. Ursache sind neben den physischen Faktoren, der Tatsache, dass sie an ihr Zimmer gebunden ist, fast immer die Handlungsmuster der Anna, die ihr Verhalten wiederum im Unterbewusstsein vom Verhalten ihrer Schwester abhängig macht. Eine destruktive Symbiose führt in einen Teufelskreis.
Bergmans Drama ist die tragische Geschichte von Missgunst und falschen Schlüssen, ausgelöst durch fehlenden Diskurs, was veranschaulicht, wie notwendig die offene Kommunikation für ein gesundes soziales Gefüge ist. Dass sich Ester und Anna im Grunde gegenseitig durchschauen, ist belanglos, solange das Gegenüber nicht direkt mit dem Wahrgenommenen konfrontiert wird. Als Ester, die Gebildete der beiden Schwestern, endlich die Wahrheit ausspricht, ist es längst zu spät. Ingmar Bergman gelingt es, das Handeln seiner Figuren als weitgehend irrationale Kette von Schlussfolgerungen zu entlarven, die sich im Ergebnis keineswegs immer mit dem deckt, was in der jeweiligen Situation immer “das Beste” für alle Beteiligten wäre. Damit schafft er ein verblüffend exaktes Portrait vom Wesen des Menschen - eingefangen fast gänzlich über die Mimik ihrer Gesichter. Ein Symptom für das Innenleben, das nicht lügen kann, wenn man einmal gelernt hat, darin zu lesen.
9/10