Satanstango

Russel Faraday

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Satanstango

Irgendwo in Ungarn: ein kleines, abgelegenes Dorf ist völlig vor die Hunde gegangen. Die wenigen Bewohner hausen in halben Ruinen, vertreiben sich die Zeit mit Alkohol, Fremdgehen oder dem Bespitzeln der Nachbarn. Als der „verlorene Sohn“ Irimias nach einer Haftstrafe zurückerwartet wird, setzen die völlig desillusionierten Menschen das in ihn, was ihnen noch an Hoffnung geblieben ist und vertrauen ihm ihre mühsam angehäuften Ersparnisse an.

Belá Tarr, von Hardcore-Cineasten als Regie-Messias gefeiert, hat im Laufe seines Lebens „nur“ neun Filme gedreht und sich 2011 völlig aus dem Geschäft zurückgezogen, um als Dozent an Filmhochschulen in Ungarn und Deutschland zu wirken. Von seinen Anhängern wird er gern mit Andrej Tarkowski verglichen, der es ja z.B. auch nicht gerade auf ein besonders üppiges Oeuvre gebracht hat, gemessen am reinenUmfang seines Schaffens.

Mit „Sátántangó“ haben wir es nun mit Tarrs magnus opus zu tun, da scheint es keine zwei Meinungen zu geben. Da ich erst vor kurzem überhaupt zum ersten Mal von ihm hörte (nach Recherchen zu Alexei Germans „Es ist schwer, ein Gott zu sein“, stieß ich auf Tarr), muss ich mit diesem Hinweis zunächst vorsichtig sein, habe aber damit auch den Vorteil, mich dem Film völlig neutral nähern zu können (was so genau nun aber auch wieder nicht stimmt, da ich mit dem Stichwort „Tarkowskij“ schon eine gewisse Erwartungsverhaltung verknüpfe). Aber der Reihe nach.

Worum geht es in „Sátántangó“? Das ist mit wenigen Worten zu sagen: es geht um Hoffnungslosigkeit, Lethargie, Verzweiflung und Kargheit. Und um das Licht am Ende des Tunnels, das sich besser nicht als der entgegenkommender Zug entpuppen sollte. Was Tarr in seinem Film allerdings zeigt, ist mit Worten schwer zu beschreiben, da der Regisseur vor allem eines tut: die fast schon endzeitlich anmutenden Schwarzweiß-Bilder sprechen lassen. Es sind keine schönen Bilder: die tristen Gebäude, die im Dauerregen versumpfende Landschaft, die Charaktergesichter der völlig verarmten, zerlumpten Protagonisten sind nichts, was man sich ausdrucken, einrahmen und an die Wand hängen möchte. Aber sie sind so unglaublich intensiv und bewegend, das man nicht anders kann, als fasziniert am Bildschirm/der Leinwand zu kleben. Eine Faszination, der man sich nur schwer entziehen kann. Neben den Bildern lässt Tarr noch einen anderen Aspekt wirken: Zeit. Viel Zeit. Verflucht viel Zeit, denn „Sátántangó“ schlägt mit so ziemlich genau sieben Stunden Länge zu Buche.

Für die Exposition nimmt sich der Film vier Stunden Zeit. In dieser Spanne erfährt man teilweise nicht einmal die Namen der Figuren, aber man nimmt Teil an den erdrückenden Abläufen ihrer Tage: da ist der fette Arzt, der seine Nachbarn bespitzelt und seine Gedanken in Schulhefte kritzelt. Der Arzt, der sich besäuft, zusammenbricht und beim Aufwachen feststellt, dass er keinen Schnaps mehr hat, worauf er sich auf den Weg macht, Nachschub zu holen. Da sind Irimias und Petrina, die im Dorf erwarteten Heilsbringer, die vor einem Polizisten hocken und sich dessen Standpauke anhören müssen, wie sehr er von ihnen enttäuscht ist. Da ist das allabendliche Besäufnis in der Dorfkneipe zu beinahe unerträglicher Akkordeonmusik in Dauerschleife. All dies sind endlos lange Szenen. Da sich Tarr einer strikten Kapitelstruktur ohne Zwischenschnitte bedient, kommt es in seiner Inszenierung der einzelnen Episoden zu Überschneidungen, die erst ein oder zwei Kapitel später aufgelöst werden. Ganze Ereignisblöcke werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, bis dann die eigentliche „Handlung“ tatsächlich erst nach vier Stunden in Gang kommt, nur um dann wieder ausgebremst zu werden. Dabei sind die Dorfbewohner keine Leute mit liebevollen Schrullen (ein paar Mal war ich versucht, neben Tarkowskij auch Aki Kaurismäki als Vergleich heranziehen zu wollen, aber so richtig hat das dann doch nicht gepasst), sondern zutiefst verbitterte, kaputte Existenzen, die jede Motivation verloren haben, etwas an ihrem Elend zu ändern. Wir folgen hier keiner globalen Apokalypse. Nicht die Welt ist untergegangen, sondern nur das namenlose Dorf.

Laut Tarr gab es ein Drehbuch. Etwas, das man den Produzenten zeigen konnte. Etwas, das Geldgeber haben wollten, um zu wissen, welchen Weg die Reise nimmt. Etwas, das sofort nach Finanzierung über Bord geworfen wurde, um den Schauspielern völligen Freiraum zu geben, sie teilweise minutenlange Monologe improvisieren zu lassen.

Das alles ist freilich schwere Kost, kein Film für nebenbei. Aber es lohnt sich. Ein wenig Sitzfleisch sollte man allerdings mitbringen. Unterm Strich war ich allerdings doch ziemlich erstaunt, wie schnell die Zeit verfliegen kann. Ich hab schon „Game of Thrones“-Episoden ertragen, die sich zehnmal zäher angefühlt haben… ;)

Auf jeden Fall bleibe ich an Tarr dran, denn auch seine anderen Werke lesen sich hochinteressant.
 

Willy Wonka

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AW: Satanstango

Vielen Dank für deine Kritik, die mir schon einmal ein gutes Bild des Films vermittelt. Und ich bin weiterhin nicht abgeneigt. ;)

Für die Exposition nimmt sich der Film vier Stunden Zeit.

Das kommt mir bekannt vor. Vor zwei Jahren habe Jacques Rivettes Mammutwerk „Out 1 - Noli me tangere" im Kino gesehen und dort setzte die Narration eigentlich auch erst nach knapp 4,5 Stunden ein. Während der Kinovorstellung des über zwölf stündigen Werkes gab es auch nur eine längere Pause von ca. 45 Minuten, sodass man wirklich in der dargestellten Welt versank.

Hast du dir „Satanstango" am Stück gesehen?
 

Russel Faraday

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