Atemlos vor Angst

Russel Faraday

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Atemlos vor Angst

Vera Cruz, ein vor die Hunde gegangenes Land unter Militärregime, irgendwo in Südamerika. Wer hier strandet, hat sein Leben hinter sich und vegetiert nur noch dahin. Auch der Amerikaner Jackie hat in Vera Cruz Schiffbruch erlitten und hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Als eine Ölraffinerie nach einem Terroranschlag in Flammen aufgeht, heuern die Betreiber vier todesmutige Fahrer an, die in altersschwachen Trucks 218 Meilen durch unwegsames Gelände Dynamit transportieren sollen, mit dem man die Flammen zu löschen hofft. Jackie sieht seine Chance gekommen und meldet sich zum Himmelfahrtskommando.

William Friedkin war nach Publikumserfolgen wie „French Connection“ und „Der Exorzist“ Mitte der 1970er auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Als er sich daranmachte, den französischen Klassiker „Lohn der Angst“ von 1953 in einem Remake zu verarbeiten, hatte er es nicht sonderlich schwer, Geldgeber für sein engagiertes Projekt aufzutreiben. Und wenn er selbst „Atemlos vor Angst“ auch heute noch als seinen besten Film bezeichnet, muß auch erwähnt werden, daß er hiermit seine bis dato ruhmreiche Karriere mehr oder weniger zu Grabe trug, denn an alte Glanzzeiten (vorzugsweise in kommerzieller Hinsicht) konnte er nie wieder anschließen und wurde kaum noch mit großen Projekten betraut.

Was lief falsch? Nun, ein Grund für das Scheitern an den Kinokassen dürfte das Jahr gewesen sein. Wir schreiben 1977. Und dies ist das George-Lucas-Jahr, denn nur wenige Wochen vor „Atemlos vor Angst“ zog „Krieg der Sterne“ in die Kinos ein und sollte eine ganze Generation (und noch einige danach) prägen. Für einen zutiefst nihilistischen, negativen Film wie dem düsteren Friedkin-Abgesang auf menschliche Werte, blieb da freilich kein Platz mehr: wieso Kohle für depressive Weltuntergangsstimmung ausgeben, wenn man auch zwei Stunden quietschbunten Spaß mit der ganzen Familie haben konnte? Finanziell konnte Friedkin also nur das Nachsehen haben (1982 hatte ein gewisser John Carpenter übrigens dasselbe Problem mit seinem Alienterrorfilm „The Thing“, der nur zwei Wochen nach dem diabetösen Knuddelmonster „E.T.“ die Welt verstörte), so daß die seinerzeit mit 23 Millionen Dollar Budget angelegte Produktion einen ziemlichen Bauchklatscher erlitt.

Erst im Laufe der Jahre hat sich O-Ton-betitelt „Sorcerer“ eine wackere Fangemeinde aufgebaut und gilt heute vielen als Meisterwerk des Abenteuer- und Spannungskinos. Im Vergleich zum Original, das sich eher als Charakterstudie verstanden haben will, kommen eben diese Charaktere bei Friedkin klar zu kurz, so daß sich trotz ausführlichen Prologes (in der US-Fassung zumindest) kaum mehr als schablonenhafte Protagonisten etablieren, allesamt verkappte Existenzen, die irgendwann in ihrem Leben den großen Fehltritt machten, der sie schließlich nach Vera Cruz brachte. Aber „Atemlos vor Angst“ will dem Original hier auch gar nicht das Wasser reichen und setzt auf einen ganz anderen Punkt: Spannung. „Sorcerer“ ist spannend, einer der spannendsten Filme, die ich kenne. Allein die legendäre Fahrt über die Hängebrücke ist so verflucht intensiv inszeniert, daß dem Zuschauer auch als passiv Beteiligtem der Angstschweiß auf die Stirn treten dürfte. Hier ist Friedkin in seinem Element und läuft zu absoluter Höchstform auf. Davor und danach sind ihm keine vergleichbar beeindruckenden Szenen mehr gelungen.

Überhaupt verfügt der ganze Film über eine unglaublich dichte Atmosphäre. Man kann beinahe fürchten, Malaria vom Ansehen zu bekommen, so nah ist man dabei, so real sind die Dschungelszenen inszeniert – nicht unerheblich durch die Musik untermalt, die die deutsche Elektroformation „Tangerine Dream“ beisteuerte, und zwar in interessanter Methode: komponieren, ohne dabei den Film zu sehen. So ist die Musik spärlich, aber dafür umso treffender eingesetzt. Auch das entsprechende Soundtrack-Album sollte in keiner gut sortierten Musiksammlung fehlen. Perfekter geht es kaum.

Die Darsteller treten da leider etwas in den Hintergrund und werden vom urwäldlichen Dickicht beinahe erdrückt. Schlägt sich Roy Scheider als Jackie/Dominguez (Friedkin hatte ursprünglich Steve McQueen im Sinn, doch der wollte nicht in Südamerika drehen und seine angeknackste Ehe mit Ali MacGraw komplett ruinieren) noch ganz wacker und kann seiner Rolle noch einen guten Stempel aufdrücken, gehen Bruno Crémer oder Francisco Rabal dann doch ziemlich unter: zu übermächtig ist Friedkins Bildgewalt, zu wenig Interesse hat er an den Darstellern, bei denen man manchmal glaubt, daß sie nur deshalb im Bild sind, weil ja irgendwer die kargen Dialoge vortragen muß.

So bleibt „Sorcerer“ Spannungskino par excellence, wie es kaum ein anderes geben dürfte. Hier stimmt jedes Bild, jeder Sound, jede Liane, jeder giftgrüne Farn, der dem Abenteurer um die Knie schlackert, wenn er sich in den Selbstmord stürzt.

Leider noch immer eher ein Geheimtip.

Es existieren übrigens zwei sich teilweise massiv voneinander unterscheidende Schnittfassungen. Die US-Version (die ich gestern erstmals gesichtet habe) ist nicht nur rund eine halbe Stunde länger, sondern spart sich das versöhnlichere Ende der deutschen Version auf. Auch wurden die Flashbacks der deutschen Fassung in der amerikanischen in einem einzigen Block (und deutlich ausführlicher) an den Anfang des Filmes gesetzt, was dem Zuschauer einen völlig anderen Einstieg in die nun folgenden Geschnisse ermöglicht.

Beide Fassungen lassen Szenen fehlen, die in der anderen vorhanden sind. Der Vollständigkeit wegen sollte man also beide Filme kennen.
 
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2moulins

Filmgott
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Vielen Dank für die ausführlichen Informationen, die auf das Wesentliche zum Film eingehen, Russel Faraday!

Naschdem es keine deutsche Veröffentlichung zu dem Film gibt, habe ich mir aus UK die amerikanische Schnittfassung auf BD besorgt, die zum 40. Jubiläum herauskam. Heute gab‘s die Erstsichtung, nachdem ich bisher nur den Soundtrack kannte, der ebenso lange wie der Film alt ist, in Vinyl in meinem Regal steht. Lediglich die französische Original-Vorlage „Lohn der Angst“ habe ich mal vor etlichen Jahren im TV gesehen, so dass mir die Handlung grundsätzlich geläufig war.

„Sorcerer“ gefällt mir ausgesprochen gut! :hoch: Handgemachte Action sowohl im Prolog - ob in Paris, Jerusalem oder New Jersey - als auch und vor allem in Südamerika, wo der überwiegende Teil des Films spielt. Friedkin bietet hier eine tolle Atmosphäre. Das Equipement scheint Schrottplätzen zu entstammen. Die LKWs, mit denen die lebensgefährliche Fracht durch den Dschungel transportiert werden soll, werden erstmal zusammengezimmert, damit sie überhaupt verwendbar sind. Die Orte sind dreckig, ärmlich und gefährlich. Oder wie Russel passend schreibt:

... Man kann beinahe fürchten, Malaria vom Ansehen zu bekommen, so nah ist man dabei, so real sind die Dschungelszenen inszeniert .......

Die Haltung der Protagonisten ist selbstmörderisch - keiner hat noch etwas zu verlieren. Auch als Zuschauer erwartet man kein Happy End, schon gar nicht für die Mehrzahl der Beteiligten.

Mehrmals treffen sie auf gefährliche, nach erstem Augenschein unüberwindbare Probleme. Die dann folgenden Anstrengungen sind meisterlich und authentisch inszeniert. Lange Abschnitte - wie die Fahrt über eine marode Hängebrücke oder die Konfrontation mit einem über den Weg gestürzten, mächtigen Baum - werden spannungstreibend fast ohne Dialoge dargestellt. Man ist mitten im Dreck, Schlamm, Regen und in der tropischen, drückenden Schwüle.

Sicherlich war das nicht die letzte Sichtung! Auch ist das Interesse geweckt, bald nochmal „Lohn der Angst“ anzuschauen.

9/10
 
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Russel Faraday

Filmvisionaer
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Schön, daß dir der Film so gut gefallen hat (und die vereinsamte KK etwas Ergänzung fand). Für mich einer der stärksten Filme der an starken Filmen nicht eben armen 1970er und mein liebster Friedkin.
 
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