Bis ans Ende der Welt

Russel Faraday

Filmvisionaer
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Bis ans Ende der Welt

November, 1999: während ein indischer Atomsatellit außer Kontrolle zu geraten und im Ernstfall die Menschheit zu vernichten droht, findet die Französin Claire heraus, dass ihr Freund Gene sie mit einer anderen betrogen hat. Sie fängt an, sich herumzutreiben und lernt Sam kennen, der einen Detektiv und die Behörden an den Hacken hat. Nachdem er sie um eine beträchtliche Summe beklaut hat (das Geld ist ihr wiederum in die Hände gelangt, als sie einen Autounfall baute, den zwei Bankräuber verursachten, die sie just mit dem Auftrag durch die Gegend schickten, die Kohle zur anstehenden Geldwäsche zu befördern), verliebt sie sich in ihn und folgt ihm buchstäblich um den Erdball. Da entschließen sich die Amerikaner, den Satelliten abzuschießen.

Wim Wenders hatte in den 1980ern und frühen 1990ern so etwas wie eine gute Phase: statt ödem Intellektuellenejakulat drehte er eine Reihe wirklich ansehbarer Filme: „Der amerikanische Freund“, „Paris, Texas“ und natürlich „Der Himmel über Berlin“, um mal die wohl bekanntesten Vertreter dieser Epoche zu nennen, die auch außerhalb einer üblicherweise recht kleinen Cineastengruppe, die die Werke des Herrn Wenders für gewöhnlich goutierten, mit einiger Beachtung… ähm… beachtet wurden. Natürlich sollte sich das mit dem filmischen Vollschund „Million Dollar Hotel“ wenig später wieder relativieren, aber noch sind wir bzw. unser Regisseur an diesem Punkt nicht angelangt.

Wir schreiben vielmehr das Jahr 1991, als sich Wenders und seine Muse Solveig Dommartin berufen fühlten, der Menschheit eine ungewöhnliche Weltuntergangsgeschichte zu präsentieren. So tüftelten die beiden eine Geschichte aus, gaben ein Drehbuch in Auftrag und beschlossen, die weibliche Hauptrolle praktischerweise gleich von Madame Dommartin spielen zu lassen. Sam Neill und William Hurt wurden als ihre männlichen Kollegen verpflichtet. Auch Max von Sydow und Jeanne Moreau schauten vorbei.

Zunächst lässt sich „Bis ans Ende der Welt“ tatsächlich hervorragend an: Claires turbulente Jagd nach Sam um den halben Globus ist temporeich und optisch hübsch anzusehen. Zwar wird Genosse Zufall in der folgenden Handlung etwas arg oft bemüht (und Rüdiger Vogler als reimender Marlow-Verschnitt nagt an der Geduld des Zuschauers), doch darüber kann man getrost hinwegsehen, da Wenders die Geschichte in ziemlich guten Tempo hält und sich gröbere Blödheiten (noch) verkneift. Das geht etwas über zwei Stunden gut. Dann sprengen die Amis den Satelliten. Der Film ist eigentlich zu Ende erzählt: Claire & Co. sind in Australien, man rauft sich mit ein paar anderen zusammen und schaut, wie die Dinge wohl weitergehen mögen. Dummerweise sind noch immer über zwei Stunden Film übrig, die ja auch irgendwie gefüllt werden müssen.

Genau da liegt das Problem: eigentlich hat man nichts mehr, um die Zeit zu füllen. So starren wir mit den Darstellern eine gefühlte Ewigkeit in den Pixelmatsch einer völlig bescheuerten Traumkamera (sischer, dat), ertragen viel Geschrei und Nervenzusammenbrüche, werden Zeuge, wie man eine Multikulticombo zusammenstellt, die lustigen Jazz produziert und müssen uns nervtötende Off-Kommentare von Sam Neill anhören, wie (sinngemäß): „Es war schon so schwer genug, jemanden in den Bergen zu finden. Doch es war unmöglich, jemanden zu finden, der sich im Labyrinth seiner Seele verlaufen hatte.“ Ja, genau. Hätte man sich denken können. Der bis dahin schwer unterhaltsame Film verwandelt sich in einen beleidigend dämlichen Hirnfurz, denn plötzlich hat sich unser Regisseur entschlossen, in der letzten halben Stunde noch irgendein Statement gegen Drogen (ob nun virtuell oder nicht) abzugeben, als wäre die Geduld des armen Zuschauers nicht bereits genug strapaziert worden, während man dann in gefühlten zehn Sekunden durch den Epilog rast. Das ist zwar, dank der schönen Aufnahmen Australiens und angemessener Schauspielqualitäten vor allem von William Hurt, wenigstens optisch gelungen, besonders lange darüber nachdenken sollte man allerdings nicht, denn dann verirrt man sich selbst im Labyrinth seiner Seele (mindestens).

In seiner längsten Fassung bringt es „Bis ans Ende der Welt“ auf stolze viereinhalb Stunden Laufzeit (ein radikal gekürzter Kinocut geriet seinerzeit zum Megaflop, Wenders‘ DC erblickte erst zehn Jahre später im TV das Licht der Welt und kam dann 2015 in Cannes zu Ehren). Das Projekt ist ehrgeizig, optisch überwiegend wirklich gelungen (vor allem die Szenen in Australien sind eine Bilderwucht), hat aber nicht nur an seiner in der zweiten Hälfte Mini-Handlung, sondern auch an der heillos überforderten Solveig Dommartin zu kämpfen, die die Hauptrolle einfach nicht zu stemmen in der Lage ist. Sie ist/war ohne Zweifel eine attraktive Frau, aber schafft es meiner Meinung nach nicht, wirklich als Claire zu überzeugen. Sie ist halt einfach da und schlittert von Szene zu Szene: glücklicherweise oft genug aufgefangen von ihren deutlich überzeugenderen Kollegen.

„Bis ans Ende der Welt“ ist ein bunter Film, der seine Farbenpracht auch nicht verliert, als die Dinge in der Handlung am schlimmsten stehen. Die frühen 90er waren halt ein quietschbuntes Schulterpolsterjahrzehnt.

Ich stehe seit Jahren mit diesem Film aus Kriegsfuß, erkenne seine Stärken in der ersten Hälfte und frage mich jedesmal, ob diese die Schwächen des Rests aufwiegen. Sollte man ihn gesehen haben? Vielleicht. Er hat viel zu bieten. Verpasst man etwas, wenn man ihn nicht kennt? Möglicherweise, aber nicht unbedingt.
 
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