Doctor Strange
Stephen Strange, dieser Name ist überwiegend Comicfans ein Begriff und einige werden ihn schon in den vorherigen Filmen des Marvel-Cinematic-Universe (MCU) vernommen haben, sofern sie genau hingehört haben. Auch wenn der Name bereits in vorherigen Filmen gefallen ist, gibt es zu Beginn von „Doctor Strange“ nur wenige Verknüpfungspunkte zu den anderen Filmen aus dem MCU und selbst Filmfans werden über die Figur noch nicht viel wissen.
Daher bekommen wir zunächst eine klassische Exposition einer Superheldengeschichte, die die Figur vor und nach der „Verwandlung“ zeigt. Dr. Stephen Strange ist ein brillanter Neurochirurg, der auf seinem Gebiet eine Koryphäe ist, aber persönlich mehr zum Arschloch als zum Gutmenschen tendiert. Doch eines Tages wird er komplett aus der Bahn geworfen. Nach einem schweren Autounfall ist sein ganzer Körper lädiert und vor allem seine kostbaren Fingerfertigkeit verliert er aufgrund der schweren Verletzungen. Etliche und zum Teil experimentelle Operationen helfen ihm nicht weiter, bis er von einem Patienten erfährt, der querschnittsgelähmt war und auf wundersamer Weise – und gegen aller medizinischer Vorhersagen - wieder laufen kann. Strange recherchiert weiter und sein Weg führt ihn bis nach Kathmandu, wo es noch andere Möglichkeiten der Körperheilung zu geben scheint, die fernab unserer Vorstellung liegen.
Der Werdegang von Dr. Stephen Strange wirkt sehr vertraut und zunächst könnte man es auf die aktuelle Dramaturgie von Marvel-Filmen zurückführen. Wenn man aber genauer hinschaut, gibt es vermehrt Parallelen zu „
Iron Man“. In beiden Filmen ist die Hauptfigur ein narzisstisches, von sich selbst überzeugtes Genie, das durch Macho-Posen auffällt. Erst durch einen Unfall verlieren beide körperliche Fähigkeiten, die sie entweder durch die materielle Erweiterung des Körpers (Iron Man) oder durch die Überwindung aller scheinbaren Schranken des Geistes (Doctor Strange) wettmachen und auf dieser Weise auch zugleich zu einem besseren Menschen werden. Ist es bei Iron Man die charismatische Darstellung von
Robert Downey Jr., ist der Coup bei „Doctor Strange“ nicht weniger gelungen durch das Engagement von
Benedict Cumberbatch, der durch seine Sherlock-Rolle bereits genug Erfahrung mit diesem „modernen“ Stereotyp des arroganten Genies gesammelt hat.
Während Tony Stark sich körperlich und leibhaftig zu Iron Man verwandelt und daher einem materialistischen Weltbild entspricht, ist es bei Stephen Strange die Erweiterung seines Geistes und die Loslösung des Körpers vom geistigen Selbst. So spannend die Ideen klingen, verbleibt die Erzählung und Dramaturgie in klassischen Mustern mitsamt des klassischen „love interest“. Bei „Iron Man“
Gwyneth Paltrow, in der Rolle von Starks Angestellten Virginia „Pepper“ Potts, bei „Doctor Strange“ übernimmt die Kollegin
Rachel McAdams diesen Part.
Doch auch wenn „Doctor Strange“ von der Narration keine neuen Wege beschreitet, sondern vermehrt bei den erfolgreichen Vorgängermodellen verbleibt, gibt es dennoch einige Ideen, die die Welt des MCU gelungen erweitern. Zunächst fällt die audiovisuelle Inszenierung des Geschehens auf, die sich stark an Science-Fiction-Filmen wie „
Inception“ und „
Matrix“ anlehnt. Beide Filme operierten bereits mit „Traum- bzw. Spiegelwelten“ und haben die Crew um Regisseur
Scott Derrickson vermutlich stark inspiriert. Mit dem Unterschied, dass Derrickson noch mehr die Möglichkeiten der aktuellen CGI-Kunst nutzen kann. Dehnbare Häuser, eine sich komplett verwandelnde Umwelt sind ästhetisch äußerst ansprechend inszeniert und bekommen durch die 3D-Projektion eine unglaubliche Räumlichkeit, die das „Fallen“ in filmischer Sicht intensiviert und den Zuschauer wirklich eine Gefühl der Immersion liefern kann. Zuschauer, die bereits bei
Robert Zemeckis „
The Walk“ ein Gefühl der Unsicherheit und der Höhenangst erlitten haben, werden ähnliche Gefühle auch bei „Doctor Strange“ erleben können. Sofern die Qualität der 3D-Projektion dies zulässt.
Wer also
Christopher Nolan bei „Inception“ bereits eine Effekthascherei vorwirft, wird mit dem visuellen Exzess bei „Doctor Strange“ eines Besseren belehrt. Doch trotz der Effekte und der Bedeutung der audiovisuellen Umsetzung der Marvel-Geschichte bemühen sich die Marvel Studios sichtlich darum, auch einen gewissen Prestige zu besitzen. Die Hauptpersonen des Films sind fast durchweg mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, die überwiegend in Independent- und Kunstfilmen mitspielen und sich vor allem als Charakterdarsteller profilierten. Das Casting ist also mehr als gelungen und lediglich Benedict Cumberbatch in der Rolle des Doctor Strange ist schon fast zu naheliegend.
Der einzigen Kritikpunkte an diesem äußerst unterhaltsamen und gut inszenierten Marvel-Film sind seine glatte Aura eines aktuellen Blockbuster-Films aus den Marvel Studios und der inflationäre Einsatz von Humor und Ironie als Kitt, der alles zusammenhält, damit fast jede Form der Kritik konterkariert wird. Die lockeren Sprüche und Oneliner sind bei „Doctor Strange“ zwar nicht so bemüht wie bei „
Avengers: Age of Ultron“, wobei die Spitznamen für den „Sidekick“ Wong schon in diese Richtung tendieren. Es wäre von den Marvel Studios mutig gewesen, wenn sie den Humor und die Ironie minimiert hätten, um damit nur eine Spur der Düsternis und der überwältigenden dramatischen Aura der letzten
Batman- und
Superman-Filme bekommen hätten, die zwar mehr Ecken und Kanten besitzen, aber durch Pathos Gänsehaut hervorrufen können.