Half Nelson

crizzero

Filmvisionaer
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Half Nelson

Ein fast dokumentarisch anmutender Lebensausschnitt einer ganz interessanten Person. Interessant deshalb, weil der Protagonist ein intelligenter Mensch mit aufgeklärten Ansichten, modernen Wertevorstellungen und einem äußerst sympathischen Lächeln ist. Auf der anderen Seite ist er drogenabhängig, wirkt sozial isoliert und irrt ziellos durch's Leben. Die Rede ist von einem Geschichts- und Sportlehrer namens Dan Dunne, gespielt vom abermals überragenden Ryan Gosling.

Mit Dreitagebart, halbgeöffneten Augen und einem leichten Grinsen im Mundwinkel streunt er durch den Vormittag an einer Highschool in New York. Den Schülern, Kollegen und selbst der Direktorin fällt auf, dass bei Mr. Dunne wohl irgendwas falsch läuft, aber keiner vermag hinter die charmante Fassade des so selbstsicher wirkenden Mannes zu schauen. Bis die 13-Jährige Drey ihren Sportlehrer auf der Toilette der Turnhalle beim Drogenkonsum erwischt und dem völlig zugedröhnten Pädagogen helfend unter die Arme greift. Von da an entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Sie verpfeift ihn nicht und er kümmert sich zunehmend um Drey, da sie Gefahr läuft, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben erzählt der Film in atmosphärischen Bildern von dramatischen Lebensentwürfen und persönlichen Abgründen, zeigt aber ebenso auf, dass Freundschaft das möglicherweise beste Mittel gegen die Versuchungen des Schlechten und Illegalen sein kann. Auch wenn der Film stellenweise etwas langatmig wirken kann, weil ihn die schwitzige Szenerie und interpretative Mimik der Darsteller ganz offensichtlich mehr tragen als ausschweifende Dialoge und inhaltliche Wendungen, so bietet er doch einen gelungenen Einblick in die privaten Abgründe einer öffentlichen Person, die es eigentlich besser wissen müsste. Und obgleich Mr. Dunne niemals von seiner Vorbildfunktion als Lehrkraft abrückt, kulminiert die Tragik dieser sich überschneidenden Lebenswege in einem leisen Finale, welches ebenso logisch wie erschreckend ist.

7/10
 
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Eclipsed

Filmgott
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AW: Half Nelson

Schöne Kritik! :hoch:
Den muss ich auch unbedingt noch sehen! Aber die Liste der gewünschten Filme ist lang und der steht schon ewig und drei Tage auf 17,99 €...das ist mir zu teuer für eine DVD!
 

deadlyfriend

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AW: Half Nelson

Ich bin mir nach wie vor unsicher was ich von dem Film halten soll. Auf der einen Seite fand ich ihn hochinteressant, aber auf der anderen Seite fehlte mir irgendwas.
Ich weiß aber nicht genau was. Zumindest ist er mir in Erinnerung geblieben, was ein gutes Zeichen ist. Ich bin aber die ganze Zeit am überlegen ob ich ihn noch in Erinnerung hätte, wenn ein anderer Hauptdarsteller die Rolle gespielt hätte.
Liegt meine Erinnerung an der Stärke des Films oder eben an Ryan Gosling?
 

crizzero

Filmvisionaer
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AW: Half Nelson

Liegt meine Erinnerung an der Stärke des Films oder eben an Ryan Gosling?

Ich kann das für mich jedenfalls recht eindeutig beantworten. Ryan Gosling ist einfach nur grandios in dieser Rolle mit zwei Seiten. Er ist für mich der Grund, warum der Film so gut ist. Er gehört ja nicht umsonst zu meinen 10 Lieblingsschauspielern.
 

deadlyfriend

Casting
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AW: Half Nelson

Das ist halt genau die Frage die ich mir gestellt habe. Wäre der Film mit einem anderen Hauptdarsteller genauso gut? Bei "Lars und die Frauen" frage ich mich das ebenfalls. Bei "Stay" hingegen könnte ich mir vorstellen das das auch ein anderer hätte übernehmen können, da der Film eben noch von anderen Dingen ausgezeichnet getragen wurde. Die anderen Filme trägt für mich Gosling fast allein. Auch "State of mind" gehört in die Kategorie. Ohne ihn sind die für mich kaum vorstellbar. Er könnte aber mal nach 2 Jahren wieder an was Neues arbeiten. Da kommt im Moment einfach nichts.
 

Despair

Filmvisionaer
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AW: Half Nelson

Sehr guter Film und ein wirklich hervorragender Hauptdarsteller. Gelegentliche Längen sind zwar vorhanden, haben mich aber nicht besonders gestört. Ich komme auch auf 7/10 Punkte.
 

Willy Wonka

Locationscout
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Eine sehr schöne Kritik zu einem mittlerweile fast in Vergessenheit geratenen Film. Ich habe mir den Film vor einigen Tagen zum ersten Mal angesehen und fand ihn äußerst gelungen. Vor allem im Vergleich zu anderen Schulfilmen bezieht „Half Nelson“ die Stärke daraus, dass er sich ohne Hektik oder Überdramatisierung seinen Protagonisten nähert und den Alltag der beiden Hauptcharaktere eben relativ nüchtern zeigt.

Die Beziehung zwischen Drey und Dan Dunne wird ohne Sentimentalitäten gezeigt und vor allem das Rollenverhältnis wird gezielt auf den Kopf gestellt. Zunächst gibt es das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis, dass sich dann zu einer Freundschaft entwickelt nachdem Drey Dan auf der Schultoilette beim Drogenkonsum erwischt (und dadurch einen gewissen Autoritätsverlust gegenüber Drey erleidet) und schlussendlich kippt das Rollenverhältnis vollständig, wenn sie zum Drogenkurier wird und ihn beliefert.

Um es plakativ auszurücken; er als Lehrer bringt den Kindern und Drey den Lernstoff nahe und sie gibt ihm dann später den richtigen Stoff. Zugleich versuche beide aneinander zu retten, was aber erst gelingt, wenn sie sich beide in ihrer anderen Rolle (Verkäufer / Käufer) gegenüberstehen und Drey dann schlussendlich bewusst wird, auf welche Bahn sie gerade gerät.

Die Beziehung der beiden und ihrer gesellschaftlichen Rollen werden im Subtext durchweg mit seiner unkonventionellen dialektischen Lernmethode thematisiert. Während er mithilfe der Dialektik den Schülern beibringt, wie gesellschaftlicher Wandel mit dem Kampf der zu überwindenden Gegensätze gelingen kann, werden diese Gegensätze durch die beiden Protagonisten sichtbar gemacht. Auf der einen Seite der weiße, männliche Lehrer mittleren Alters und auf der anderen Seite die schwarze, weibliche Schülerin im Teenager-Alter. Und schlussendlich ist er der Drogenkonsument und sie die Drogenverkäuferin. Selbst der Charakter Dan Dunne verbindet die Gegensätze in seiner Person. Alternierend wird er als motivierender, idealistischer Lehrer gezeigt und als heruntergekommenes, passives Drogenwrack. Doch durch die elliptische Erzählweise umschifft der Film alle Sentimentalitäten und suhlt sich weder im gezeigten Elend noch erliegt er den Klischees eines Feelgood-Movies. Für mich eine große Leistung der beiden Regisseur Ryan Fleck und Anna Boden.
 
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