Sonatine

crizzero

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AW: Sonatine

Kritik von Farman

Sonatine

In den meisten Fällen ist Filmegucken eine passive Angelegenheit. Die Leinwandcharaktere existieren für etwa zwei Stunden in einer konstruierten äußeren Wirklichkeit, die nach dem Abspann schwindet, manchmal (im Erfolgsfall, aber auch darüber kann man sich streiten) mit einem kleinen Einfluss auf unsere innere Wirklichkeit als Menschen. Da die meisten bislang kreierten Filme sich gleichen, neigt diese Kunstform dazu, sich ständig selbst zu bestätigen. Folglich neigt sie auch dazu, uns und unsere Bilder dieser Kunstform, damit verbunden unsere Bilder der Wirklichkeit zu bestätigen. Wie Godard sagte, irgendwann verliert das Ganze den Bezug zu einer Wirklichkeit außerhalb des Kinos und wird ein einziger selbstherrlicher, selbstgerechter Selbstzweck.
Als Zuschauer bleiben wir meistens passiv, wir nehmen das Gezeigte hin, wir nehmen die Gewalt hin, wir nehmen den Tod hin, das ist alles Teil einer Geschichte, die schon zigfach erzählt wurde. Es ist Schicksal. Filme zu kucken ist wie das Schicksal zu befragen, das „Genre“ ist wie eine generell anerkannte Version des Schicksals.

Takeshi Kitanos „Sonatine“ ist die Transzendenz, die Überschreitung des Schicksals. Diese groteske Komödie, diese meditative Tragödie von einem Gangsterfilm ist –ich sag’s gleich- für mich der innovativste Film der neunziger Jahre. Er stellt die Genreregeln auf den Kopf, aber so reflektiert, so bedeutungsvoll und gleichzeitig so beschwingt und komisch, so trocken und zynisch, dass man das Medium danach überdenken muss.
Wir verfolgen die völlig beiläufige Geschichte von einer Reise in das entlegene Okinawa zwecks Streitschlichtung zweier verfeindeter Clans, Anführer der Reisenden ist der gemeingefährliche, psychopathische, zynische Murakawa, gespielt von Kitanos Alter Ego „Beat Takeshi“. Einige Tote später finden wir die Reisenden untertauchend in einer Strandhütte wieder. Der Inhalt des ganzen zweiten Drittels besteht darin, den Charakteren dabei zuzuschauen, wie sie ihre Zeit totschlagen, mit albernen und teils psychopathischen Spielereien, die hier nicht verraten werden sollen.

Die Fragen, die wir uns bei all den Albernheiten stellen, sind zutiefst existenzialistisch. Nach der Enge der Stadt sind wir in der Weite des Strands, nach Gewalt und Tod sehen wir Spiel und Spaß, Freiheit und Leben. Wenn Kitano uns bloß ein paar Gegensätze vor Augen halten wollen würde, Sonatine wäre ein nettes formales Experiment und nichts weiter. Aber sein Film ist mehr. Sein Film ist die Suche nach dem Schicksal als die dialektische Vereinigung von Leben und Tod, das Plädoyer für die persönliche Entscheidung in der Ausweglosigkeit, in den Fängen der modernen, funktionalen Gesellschaft, in den Fängen von altertümlichen, menschenfeindlichen Ritualen, in den Fängen des Genres. Wer gerne „freakige“ Filme sehen will, soll zu den (zugegebenermaßen oft höchst genialen) Werken Miikes greifen, wer meint, mit Gewalt und Schock in kunstfertigen Bildern ein innovatives Stück Kino vor sich zu haben, soll lieber zu „City of God“ greifen. Wer aber etwas über den Menschen erfahren will, kommt an Takeshi Kitanos „Sonatine“ nicht vorbei.

Ich bin eigentlich nicht derjenige, der nach dem Abspann anfängt zu flennen. Ich weiß eigentlich kaum noch, wie man äußerlich weint, ich kann’s nur innerlich. Nach dem zwanzigsten Mal „Sonatine“, dem Film, nach dem ich wie sonst kaum einem in den letzten Jahren süchtig war, kamen mir die Tränen. Da mir die Worte fehlen, viel mehr zu erzählen, beende ich diese Kritik mit einer Empfehlung (dass man ihn im Original sehen muss, ist hoffentlich klar!).

Fazit: Ein zutiefst humanistisches Werk innerhalb einer zutiefst misanthropischen Hülle, noch nie haben Komödie und Tragödie, Zynismus und Melancholie einander so selbstredend den Hof gemacht.
 
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