Sans Soleil - Unsichtbare Sonne

Willy Wonka

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#02 01.12.2012 Willy Wonka
 
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Willy Wonka

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Sans Soleil - Unsichtbare Sonne



Der nachfolgende Text soll nicht als übliche Kritik gelesen werden, sondern viel mehr soll er als ein subjektiver Erfahrungsbericht verstanden werden.

Der Begriff des Essayfilms war für mich vor diesem Film noch ein Rätsel, denn einen Essay kannte ich lediglich in schriftlicher Form und die Vorstellung eines gelungenen und anspruchsvollen Essays in Bildern, Tönen und Bewegungen – in einem audiovisuellen Medium entzog sich meiner Vorstellungskraft. In einem Essay beschäftigt sich ein Autor mit wissenschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Phänomenen und daraus sollte nach Möglichkeit eine geistreiche Abhandlung resultieren. Diese Abhandlung unterscheidet sich von anderen wissenschaftlichen Schriften dadurch, dass sie einen experimentellen Charakter aufweist und sich der Autor nicht immer bewusst ist, wohin seine Arbeit hinführen wird. Diese kurzen rudimentären Definitionsgrundlagen sollen genügen und deutlich aufzeigen, wie es der Künstler Chris Marker geschaffen hat, einen „Essayfilm" zu kreieren.

Die Eindrücke, die ich von diesem Film erfahren haben, lassen sich in keinen einfachen Handlungskorsett darlegen, denn weder weist der Film eine klassische narrative Struktur auf, noch kann überhaupt von einer Handlung gesprochen werden. Die einzigen wiederkehrenden Elemente stellen die fiktiven Briefe eines Kameramanns dar, der in verschiedenen Ländern gereist ist und seine Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse in Worte, Bildern oder Töne zu vermitteln versucht. Die Erzählerin des Films lädt dazu ein, an einem assoziativreichen Erlebnis- und Erfahrungstrip teilzunehmen, der die Umwelt des Kinozuschauers vergessen lässt. Unter der Prämisse, dass der Kinozuschauer dem Film sein Interesse, seine Muße, Konzentration, und Aufmerksamkeit schenkt, wird er alle realen Dinge in seinem nähren Umfeld vergessen. Eine vollkommene Kontemplation. Vergleichbar ist dieses in Ansätzen nur noch mit der Durchführung von Traumreisen oder mit Hypnose. Die Unterschiede liegen nur darin, dass das Medium „Film" sowohl die auditiven als auch die visuellen Sinne vereinnahmt, sodass die musikalischen oder allgemeiner gefasst, die akustischen Arrangements sich mit dem „Bild" verschmelzen.

In einem unregelmäßigen alternierenden Wechsel zwischen Japan und Afrika vermittelt der Autor die kulturellen Gepflogenheiten und zeichnet nur in Ansätzen deren Kontraste nach. Während der gesamten Laufzeit schneidet der Film immer nur Themen an, wo der Kinozuschauer selbst aufgefordert wird, weiter zu denken und sich seinen teils grotesken oder absurden Assoziationen nachzugeben. Ziel ist es nicht, Dinge einfach oder rational zu betrachten, sondern tief in die Materie vorzudringen und von scheinbar einfachen Dingen und Zusammenhängen auf das große Ganze zu schließen. Wäre es bei Platon die göttliche Idee, bei Immanuel Kant der Gute Wille, ist es bei Chris Marker die Natur der menschlichen Erinnerungen, welches das zentrale Motiv seines Schaffens darstellt. Doch wo Wissenschaftlicher mit ihren Verfahren, Methoden oder mithilfe Logik Dinge untersuchten und versuchen Probleme zu lösen, wählt Marker den Weg des intuitiven, inspirierende Denkens und versucht mit einem ungeordneten, künstlerischen Blick Dinge wahrzunehmen, die Schönheit der Natur darzustellen/abzubilden ohne der eindeutigen Absicht am Ende ein klassifizierbares Resultat zu erhalten. In diesem Zusammenhang passt wunderbar die „Volksweisheit“: „Der Weg ist das Ziel". So offenbart der Film keine Lösungen, sondern liefert nur indirekte Erkenntnisgewinne. Doch den Film bloß auf schöne Bilder zu reduzieren, läuft Gefahr diesen Film in dem Wahrnehmungsapparat des konventionellen Films, womit sowohl der Dokumentar- als auch der Spielfilm gemeint ist, zu sehen und zu bewerten.

Dass der Film neben den offensichtlichen Themen und Eindrücke noch viel unter seiner Oberfläche verbirgt, zeigt unter anderem die Selbstreferentialität des Mediums sowie die vielen autobiographischen Referenzen seitens Markers.

Das Medium und vor allem das Bild wird als sich selbst bewusst und soll auch isoliert vom restlichen Film seine Wirkung entfalten, das gelingt Marker dadurch, dass an einigen Stellen der Film anhält und somit das Einzelbild im Zentrum der Aufmerksamkeit des Kinozuschauers steht. Des Weiteren manipuliert er die Filmbilder durch einen Videosynthesizer, sodass längere Szenen bewusst artifiziell und vor allem elektronisch ausgefallen sind. Dass diese Methode in der aktuellen Filmproduktion anders (mithilfe von leistungsfähigen Computern) eingesetzt wird und Markers Arbeit eine Pionierleistung auf diesem Gebiet darstellt, gibt diesem Essayfilm eine historische Dimension, die in einem kongenialen Einklang mit dem Motiv der Erinnerungen und des Vergessens einhergehen, sodass der Film bei einer heutigen Rezeption eine weitere metatheoretische Ebene erlangt. Denn die heutigen Zuschauer sehen sich ein Relikt aus der Vergangenheit an, welches wiederum über die Möglichkeiten des Bewusstwerdens von Zeit und vor allem der vergangenen Zeit referiert und auch dieses Gebiet kritisch problematisiert. Das bedeutet, dass wir als Kinozuschauer die Methoden und Möglichkeiten des Erinnerns auf den Film selbst anwenden können, sodass der Film selbst als ein alterndes Medium in Erscheinung tritt und zum Objekt seiner eigenen Betrachtung wird. Selbst diese theoretische Überlegungen stellt „Sans Soleil“ in rudimentären Ansätzen dar, sodass in dieser Hinsicht sogar von einer weiteren Metaebene gesprochen werden könnte. Die diskursive Auseinandersetzung mit dem Medium „Film“ und anderen verwandten Medien, die sich untereinander beeinflussen, erreicht in dem Film also eine Stufe, die über das hinausgeht, was der selbstreferentielle Charakter der Postmoderne ausmacht.

Wie bereits angedeutet offenbart der Film auch diverse autobiographische Bezüge von Chris Marker, die aber vermutlich nur den Kinozuschauern auffallen werden, die sich bewusst mit der Biographie von Chris Marker auseinandergesetzt haben. So ist die häufige und wiederkehrende Einblendungen von verschiedenen Katzen darauf zurückzuführen, dass Marker ein großer Katzenfreund gewesen ist. Ein weiteres Segment von „Sans Soleil“, welches sich intensiv mit Alfred Hitchcocks „Vertigo“ befasst, hatte bereits seinen Vorläufer in der ausführlichen Abhandlung von Chris Marker über diesen Film, dass erneut die Bedeutung von „Vertigo“ auf das Werk von Marker illustriert.
Selbstverständlich ist auch die Auswahl der gezeigten Länder auf das Reiseverhalten und die Interessen von Marker zurückzuführen, der bereits früher Reisebücher (u.a. zu Japan) verfasst hat. Somit stellt „Sans Soleil“ ein Sammelsurium aus den vorherigen Arbeiten von Marker dar, die er in diesem Langfilm zu verschmelzen versucht hat. Diese Kompilation ist ihm sichtlich gelungen, denn so genießt „Sans Soleil“ den Status des bekanntesten, populärsten und vermutlich auch des besten Werks von Chris Marker und kann demnach als sein Magnum Opus angesehen werden.

Nach der Kinovorführung des Films erwachte ich aus einem tranceähnlichen Zustand und gelang langsamen Schrittes wieder in eine reale Welt, die ohne scheinbare Abbildungen auszukommen scheint. Wie bereits zu Beginn erläutert, gelang es mir, mich dem Film hinzugeben und mich somit während des gesamten Films in einem Zustand befand, den ich als vielfältigen, unbegrenzten assoziative Rausch bezeichnen würde. Seit dem Kinobesuch ist der Vorgang des Vergessens eingetreten, sodass ich kontinuierlich mehr von dem Film bzw. dessen Inhalt, wenn man es überhaupt als so etwas bezeichnen kann, vergesse. Einzelne Details scheinen nicht mehr von Bedeutung zu sein, denn nur der Film im Gesamten, das vermittelte Gefühlt der vollkommen Kontemplation und die Faszination des gesamten audiovisuellen Eindrucks, bleibt bestehen.
 
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