Der Busenfreund

Willy Wonka

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Der Busenfreund


Provozierend, entblößend und womöglich chauvinistisch ist der Film erneut eine Polarisierung seitens Regisseur Ulrich Seidls. Dennoch gelingt ihm mit jedem seiner Dokumentationen eine filmintensive Erfahrung. In Zeiten von gescripteten Fernsehformaten, der Schilderung von prekären Familiensituationen im Privatfernsehen zur Mittagszeit, und der Hang zur Bloßstellung von außergewöhnlichen Menschen, die häufig als Freak, Nerd oder als asozial bezeichnet werden, ist die Unterscheidung zwischen seriösen Dokumentationen und voyeuristische Massenunterhaltung manchmal nur noch schwer zu trennen.

Bei dem betitelten Busenfreund handelt es sich um den fünfzigjährigen René Rupnik. Direkt in den ersten Einstellungen beginnt er mit einem Monolog über die Faszination Senta Bergers, die für ihn aus körperliche Sicht die perfekte Frau darstellt. Er drückt sein Unverständnis aus, wieso die Medien Romy Schneider gegenüber Senta Berger den Vorzug gaben und geben. Bereits jetzt wird dem Zuschauer gewahr, dass die nächste Stunde eifrig die Position und Phantasie von René Rupnis zu Senta Berger sowie den weiblichen Körper erörtern wird. Nach dem Prolog des Films werden wir Rupnik direkt in seiner Tätigkeit als Mathematiklehrer gewahr und wohnen seinen Exkursen und Gleichnissen zwischen der Mathematik – in diesem speziellen Fall handelt es sich um die Kurvendiskussion – und der weiblichen Brust bei. Mögen seine Eselsbrücke zum Sinus und Kosinus noch äußerst humorvoll sein, wird im weiteren Verlauf des Films deutlich, dass sich Rupnik nicht mehr vom Thema des weiblichen Körpers entsagen kann. Daher ist es ihm auch nur noch zweitrangig, ob er schlussendlich vor einer gefüllten oder leeren Klassenraum unterrichtet.

Im Kontrast zur Beschreibung seiner Phantasie und Körperwelten, schildert uns Ulrich Seidl die reale Seite von dem Leben René Rupniks. Er lebt zusammen mit seiner greisen Mutter in einer kleinen Wohnung, die übersät ist von alten Zeitungen, Zeitschriften und Dingen, die freilich als Gerümpel bezeichnet werden können. In der kaum vorhandenen Diskussion mit seiner Mutter, die zunächst nur aus einer Stimme im Hintergrund in Erscheinung tritt, wird deutlich, in welchen Verhältnissen René Rupnik wohnt. Isoliert von der Außenwelt bietet ihm das Stöbern in seinen Sammlerobjekten und den Phantasien der einzige Eskapismus. Seine Betrachtungen und Analysen scheinen beinahe einer komischen Philosophie und Sprachtheorie zu entstammen. So legt er ausführlich dar, wieso er das Wort „Ficken“ in seiner Phonetik exzellent den Vorgang beschreibt und wieso der Begriff „Weib“ für ihn deutlich besser zum beschreibendem Gegenstand passt. Dass seine sprachlichen Handlungen vornehmlich im Klassenzimmer vor der Tafel erfolgen, Seidl dabei den Bildausschnitt so wählt, dass in der Bildkadrierung nur am unteren Bildrand Rupniks Kopf zu sehen ist und über ihn die Tafel mit den vielen mathematischen Formeln die Bildpräsenz auf sich lenkt, zeigt eindrucksvoll die Differenzierung und Abspaltung des Geists, des Intellekts und der Logik auf der einen Seite und das meist unterdrückte und von Trieben gezeichnete Körperliche. Die Untersuchung und Betrachtung des Körperlichen mithilfe der Mitteln des Geists, der ihm gegebenen Sprache und der Verwendung von Allegorien verliert seine intellektuelle Patina nur durch dem Charakter Rupniks und wird zuweilen durch und seine Mundart und seinem Hang zur alltagssprachlichen Anekdote konterkariert.

Dass seine Perspektive vollkommen chauvinistisch erscheint und er die Frau einzig auf ihren Körper und das Objekt der Begierde reduziert, wird meines Erachtens großartig von kurzen Kommentaren kompensiert, in denen er schildert, dass er zurück in den weiblichen Uterus kriechen möchte. Prägnant bringt er diesen Aspekt des In-die-Welt-geworfen-sein und dem daraus bei ihm resultierenden Unwohlseins auf der Welt zum Ausdruck, sodass selbst Psychoanalytiker durch diese Direktheit erschlagen werden würden.

Im Vergleich zu „Mit Verlust ist zu rechnen“ wirkt er Film noch drastischer inszeniert, obwohl es dieses Mal keine eingefrorenen Bildeinstellungen gibt, in denen die Protagonisten stumm in die Kamera blicken. Dafür zeigt der Film keinen Raum für Improvisationen. Alle Bilder scheinen perfekt montiert worden zu sein und genau der Idee von Ulrich Seidl zu entsprechen. Dieses festgelegte Struktur und Dramaturgie lassen erneut die Grenzen zwischen klassischer Dokumentation und Spielfilm verschwimmen. Beiden Lagern können sich demnach die Übernahme des jeweiligen anderen „Stils“ echauffieren, sodass der Film schlussendlich weder Fisch noch Fleisch ist. Wer als Zuschauer aber genau diese Grenzerfahrungen zwischen Dokumentar- und Spielfilm suchen will, wird bei den Filmen von Ulrich Seidl richtig liegen.


Ein Protokoll der Filmdiskussion mit Regisseur Ulrich Seidl, Protagonist René Rupnik und dem Produzenten Erich Lackner bei Duisburger Filmwoche aus dem Jahre 1997 gibt noch eine interessante Interpretationen und Hintergründe zur Dokumentation.

Diskussionsprotokoll (Duisburger Filmwoche 1997)
 
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