Singapore Sling

crizzero

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Filmkritiken
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AW: Singapore Sling

Kritik von Vince

SINGAPORE SLING

Auf Otto Premingers "Laura" basierender, überaus gewagter Genremix irgendwo zwischen Krimi, Sexploitation, Drama, Komödie und Splatter, der den Film Noir als Vorwand nimmt, um den Zuschauer vollends zu verstören.
In schwarzweiß gedreht, wird man zunächst von sicheren Genreerwartungen eingelullt, die vorgaukeln, man würde sich in einem abgesteckten Gebiet bewegen: Ein Wald, ein altes Auto mit strahlenden Scheinwerfern, prasselnder Regen, ein Mann in Trenchcoat mit Hut und ein melancholischer Off-Kommentar des (Anti-)Helden. Dann gar zwei vermeintliche Femmes Fatales, die über einem ausgehobenen Grab stehen und jemanden beerdigen. Die Bilder sind eine Illusion, ein Replika des Film Noir, das aufgebrochen wird, sobald der Mann im Trenchcoat die Schwelle des Hauses der beiden Frauen betritt.
Ab hier kehrt Nikos Nikolaidis brutal alle Genreerwartungen nach außen und schockiert mit sexuellen Perversitäten. Der (Anti-)Held wird gefesselt, die bis dahin inzestuös vorgehenden beiden Frauen, Mutter und Tochter, übergeben sich auf ihn, urinieren auf ihn. Die ekelhafte Dekadenz aus "Das Große Fressen" überträgt sich auf das Mahl zu Tische, mit Kristallgläsern und teurem Besteck, aber die Nahrung wirkt ekelhaft, unterscheidet sich in ihrem Schwarzweiß nicht von den Goreszenen, als die Innereien eines Menschen wie in einem Romero-Film ausgeweidet und in gläserne Behältnisse gestopft werden. Doch im Gegensatz zu jenen Werken stehen Sex und (bevorzugt sadomasochistische) Gewalt hier nicht im Rahmen der Genreerwartungen, sondern außerhalb; sie brechen herein wie eine Invasion von Fremdkörpern. Und das ist das wirklich Schockierende. Pornographisches, Splatter und Gore sind vorhanden, jedoch beileibe nicht so explizit wie in Filmen, die aus diesen Gründen gemacht wurden. Das Fremde an ihnen verleiht ihnen hier die unerträgliche Intensität.
"Singapore Sling" scheint es einzig und allein um cineastische Tatbestände zu gehen. Der Film ist hier nicht Medium zum Transport gesellschaftlicher oder sozialer Werte, sondern er bezieht sich voll und ganz auf seinesgleichen. Er möchte Zäune einreißen, selbstreferenziell darauf verweisen, wozu der Film als Medium fähig ist. Dass diese Fähigkeiten durch die Genrekategorisierungen - und der hier verwendete Film Noir ist sicher eines der prägnantesten Genres überhaupt - immer wieder unterschätzt werden, erkennt man daran, wie sehr "Singapore Sling" das sittliche Empfinden des Zuschauers berührt - Der Kultursender Arte scheint den Hinweis für diesen Film maßgeschneidert zu haben.
8/10
 
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